Lea (25) war 2017 während zwei Wochen über das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de la Casas in einer zapatistischen Gemeinde in Chiapas im Einsatz. In ihrem Bericht „Beobachtungen im Reich der blauen Wasser“ schildert sie ihre Eindrücke.
Beobachtungen im Reich der blauen Wasser
Mittwochmorgen, kurz nach Sonnenaufgang herrschte Aufregung in unserer kleinen Gruppe auf einem Platz in San Cristóbal. Anscheinend gab es erneute Blockaden auf der Strecke zwischen San Cristóbal de las Casas und einer nahen Kleinstadt. Ob es wegen der staatlich angeordneten Verteuerung der Benzinpreise war, welche schon seit einigen Wochen dazu führte, dass immer wieder Strassen gesperrt wurden? Einige der Gruppe verspürten Verunsicherung und sorgten sich wegen der angespannten, unbekannten Situation, andere versuchten diese zu beruhigen. Klar war, dass wir schnell handeln mussten um nicht bei Dunkelheit in die uns zugeteilte Gemeinde zu kommen. Der Zusammenhalt unserer Gruppe, ein häufig zufällig zusammengewürfelte Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur, wurde nun bereits auf die Probe gestellt. Im Hin und Her zwischen Zeitdruck und demokratischem Entscheiden fanden wir zwei Kollektiv-Taxis, die uns übers Hinterland und erdig-steinigen Strassen zum gewünschten Ziel brachten. Auf der Laderampe eines Pickups fuhren wir noch eine halbe Stunde weiter bis zum autonomen Verwaltungszentrum der Region, einem der fünf sogenannten „Caracoles“ – Schneckenhäuser. Dort stellten wir uns dem ‚Rat der Guten Regierung‘ vor und erhielten die Erlaubnis unsere Aufgabe als Menschenrechtsbeobachter und -beobachterinnen in der uns zugeteilten Gemeinde wahrzunehmen.
Die Sonne brannte und es herrschte, im Vergleich zum kalten San Cristóbal, ein eher tropisches Klima, als wir die letzten zwei Kilometer in die Gemeinde liefen. Bananenstauden und allerhand farbige Blüten säumten die Straße, die runter zu einem hellblauen Fluss führte. Zwischen Kokospalmen, grossen, mit Lianen behängten Bäumen und viel Gestrüpp fanden wir ein etwas heruntergekommenes Gebäude aus Beton und Holz. Ein paar zapatistische Malereien schmückten die Wände. Hinter einer Theke standen zwei grosse verrostete Kühlschränke, aus dem Wasserhahn tropfte es stetig, obwohl anscheinend jemand schon einmal versucht hatte die Dichtung mit einem Plastiksack zu reparieren. Draussen unter einem Wellblechdach fanden wir eine Feuerstelle, wo noch heisse Kohle glühte. Hier mussten wir richtig sein. Bald fanden wir die für uns verantwortliche Person. Sie gab uns einige Anweisungen; wo das Toilettenpapier zu verbrennen sei, wo wir Holz zum Feuermachen und zum Kochen finden konnten. Ebenfalls teilte sie uns mit, dass sich immer mindestens eine Person von uns im oder um das Haus aufhalten muss.
Dann richteten wir unser Lager für die nächsten zwei Wochen ein: Die Hängematten wurden aufgehängt. Wir organisierten unser Essen, welches wir auf einem bunten und lauten Markt auf dem Weg eingekauft hatten. In unserer Aufenthaltszeit von zwei Wochen gab es vor allem Haferflocken zum Frühstück und Bohnen mit Zwiebeln zum Abendessen. Ab und zu mal eine Frucht oder ein Gemüse. Dies änderte sich allerdings als in der zweiten Woche Unterstützung aus einem nahe gelegenen Dorf kam und wir in die Wildpflanzenküche eingeführt wurden. Nebst den Beobachtern gab es immer zwei ‘Compañer@s’ – Kolleg_innen – aus der zivilen Unterstützungsbasis, die jeweils eine Woche Wache halten und kleinere Unterhaltsarbeiten erledigen mussten. Einer von ihnen zeigte uns wie man wilde Papayas kocht, wir sammelten Kokosnüsse, grillierten junge Spriesse von einem kleinen grünen Busch. So erhielten wir einen kleinen Einblick in die Reichhaltigkeit dieser Erde und deren Bewohnern. Am Reichtum und der Fruchtbarkeit sind heute grosse Pharmaunternehmen, Minengesellschaften und Wasserkraftwerkinvestoren interessiert, welchen die Regierung grosszügig Konzessionen vergibt und deren Eingriffe zur Ausbeutung und Verschmutzung des Südens Mexikos führt.
Die ersten Tage im ‚Campamento‘ waren sehr ruhig. Ich verbrachte Zeit mit lesen, spazieren, baden im Fluss, diskutieren, Feuer machen, kochen, und was sonst noch so an Hausarbeit anstand. Durch die vielen Gespräche mit den anderen Beobachtenden, die aus Brasilien, Argentinien, Katalonien und Deutschland kamen, und in ihren Ländern in unterschiedliche Projekte involviert sind, lernte ich Perspektiven und Problematiken in Bezug auf lateinamerikanische Länder kennen, die mir bis jetzt noch unbekannt waren. Nach einigen Tage der Ruhe wurde uns angekündigt, dass es eine Versammlung der autonomen Region geben wird. Mehr als 100 Vertreterinnen und Vertreter aus verschiedenen umliegenden Dörfern reisten am folgenden Morgen an, um an besagter Versammlung teilzunehmen. Uns wurde erklärt, die Versammlung würde so lange dauern bis alle Anliegen geklärt seien. Die Angelegenheiten werden nicht durch Mehrheitsentscheide bestimmt, sondern alle die was sagen wollen, werden angehört und man diskutiert bis alle mit der Entscheidung zufrieden sind (Konsensprinzip). Dies bedeutete in unserem Fall dass die Versammlung drei Tage dauerte. Vorwiegend wurde in Tzeltal gesprochenen. Mittags gab es eine riesige Pfanne mit Bohnen, die zu den mitgebrachten ‚Tostadas‘ – harte Tortillas – gegessen wurden. Abends gab es schwachen Kaffee mit viel Zucker. Ab und zu wurden süsse Brötchen verkauft, die von einem Arbeitskollektiv mitgebracht wurden.
Nach dem dritten Tag waren die Bohnen fast aufgebraucht und es zog die Leute langsam zurück zu ihren Familien und ihren Maisfeldern, wo viel Arbeit auf sie wartete. (Politik und Arbeit => Autonomie bedeutet viel zu tun!) Endlich waren alle Punkte besprochen und schnell waren die paar Plastikplanen und Decken eingepackt.
Wir verbrachten die drei Tage vor allem damit den Geschichten der Leute zuzuhören. Insbesondere eine junge Frau ist uns ans Herz gewachsen. Sie ist mit ihren 18 Jahren bereits in der Bildungskommission, einer Gruppe von Leuten die Besuche bei Schulen oder Eltern der verschiedenen Gemeinden macht und ihren Anliegen zuhört um diese zurück in die Schneckenhäuser zu bringen wo der Rat der Guten Regierung die Anliegen aufnehmen, diskutieren und umsetzen kann. Die junge Frau erzählte uns von dem Ort in welchem sie lebt, brachte uns einige Wörter in ihrer Sprache (in Tzeltal) bei, wollte im Gegenzug viele Geschichten aus unseren Leben wissen und schrieb sich ausserdem alle portugiesischen und englischen Wörter auf, die sie zu hören bekam. Es war ein lustiger Austausch. Trotz all dem Schönen und Unbeschwerten waren wir uns bewusst, dass wir uns hier in einer Konfliktzone befinden.
Aus älteren Berichten verschiedener vorheriger Menschenrechtsbeobachter_innen sowie aus den Erzählungen verschiedener Leute vor Ort, geht hervor, dass das ganze Gebiet vor 1994 einem einzigen Grossgrundbesitzer gehörte. Das Land wurde von den Zapatisten im Zuge der Zurückeroberung der ehemals indigenen Gebiete wieder in Anspruch genommen. Da die Zapatisten in den Folgejahren mit der Neuorganisation und Weiterentwicklung ihrer Strukturen beschäftigt waren, zogen sie sich aus dem Gebiet zurück und das Gebiet geriet in die Hände der Regierung. Diese baute im Zuge verschiedener Investitionen in die Tourismusregion zwischen Palenque und San Cristobal dieses grosse Hotel. Doch der Ort verwahrloste und Alkoholkonsum und Prostitution nahmen Überhand. Im Jahr 2008 fiel das Gebiet schlussendlich mit einem Vertrag zwischen der offiziellen Regierung und den Zapatisten wieder unter deren Kontrolle.
Seit diesem Zeitpunkt nutzen die Zapatisten die Anlage als „Ecotourismus“-Projekt. Die Situation blieb aber nach wie vor angespannt. Denn jener Vertrag wurde von den in der gleichen Gemeinde wohnenden nicht-Zapatisten nicht anerkannt. Es ist gut möglich, dass genau dies die Absicht der Regierung war: nämlich die Bewohner derselben Gemeinde gegeneinander aufzuhetzen um somit auf viel subtilere und weniger offensichtliche Art die autonomen Gemeinden zu zermürben (Psychologische Kriegsführung => Krieg niederer Intensität). Da einige der Menschen, die in der Gemeinde wohnen, jedoch Anhänger_innen einer politischen Partei (mehrheitlich PRI = Partei der institutionalisierten Revolution, klingt gut, ist aber nix!) sind, erheben sie Anspruch auf Teile des nun autonom verwalteten Gebietes. Die wenigen zapatistischen Familien, die noch im Ort wohnen, sind ständigen Bedrohungen ausgesetzt. Wasserleitungen und Stromkabel werden zerschnitten, zum Teil Bäume gefällt oder sonst wie in das Gebiet eingedrungen. Während unserer ersten Woche wurden Compañer@s am Eingang des Dorfes von jüngeren, schon etwas angetrunkenen Parteiangehörigen wörtlich angegriffen und es wurde ihnen den Zugang zum Gelände verwehrt. Wie uns berichtet wurde, reagierten die Zapatisten nicht auf diese Provokationen und als sie vorbeigehen wollten, wurden sie mit Steinen beworfen. Viele zapatistische Familien haben den Ort aufgrund solcher Einschüchterungen und Bedrohungen in der Vergangenheit verlassen. Die, die noch da sind, sind auf die Anwesenheit von Menschenrechtsbeobachter_innen angewiesen, die ihnen nebst der Dokumentation ebensolcher Vorfälle auch einen gewissen Schutz vor direkten Angriffen geben können und sie durch ihre Präsenz unterstützen und ermutigen die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben nicht zu verlieren. Die Einsätze der Beobachter_innen tragen neben der eigentlichen Arbeit der Dokumentation auch einen grossen Teil dazu bei, den internationalen Austausch aufrecht zu halten und das Gefühl des Alleingelassenseins oder des Vergessenwerdes zu vermindern. Ein Gefühl das die indigenen Gemeinden seit der Eroberung des amerikanischen Kontinents stets begleitet hat.
Der vollständige Bericht mit den historischen Hintergründen kann hier gelesen werden: Bericht_MR Beobachtung