Chiapas: Die zapatistische Bewegung

Aufstand gegen den Neoliberalismus

Am 1. Januar 1994 trat eine Bewegung an die Öffentlichkeit, die den Vergessenen eine Stimme gab: den indigenen Völkern Mexikos. Tausende schlecht bewaffneter Indígenas besetzten mehrere Städte in Chiapas und erklärten der mexikanischen Regierung den Krieg. Der Zeitpunkt des zapatistischen Aufstands war bewusst gewählt: am selben Tag trat der NAFTA, der nordamerikanische Freihandelsvertrag in Kraft.

In den folgenden Jahren gab die EZLN entscheidende Impulse für die unabhängige Organisierung der mexikanischen Zivilgesellschaft. Nachdem die korrupte PRI jahrzehntelang als Staatspartei auf sämtlichen Regierungsebenen die Fäden in der Hand hielt, verlor sie die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 an Vicente Fox der PAN. Die Abwahl der PRI und der Wahlerfolg einer konservativen, neoliberalen Partei kann als eine – wenn auch nicht unbedingt positive – Folge der Forderung nach mehr Demokratie gewertet werden.

Die PAN setzte die neoliberale Politik der PRI nahtlos fort. Der Plan Puebla Panama, ein Projekt das mit Hilfe von IWF und Weltbank noch zu Zeiten der PRI entworfen wurde, soll die zentralamerikanische Region in einen leicht auszubeutenden Wirtschaftsraum verwandeln. Für Chiapas bedeutet der PPP unter anderem den Bau von Staudämmen, Autobahnen und Maquilas entlang der Verkehrsachsen. Den indigenen Gemeinden wird im Zuge dieser neoliberalen Umstrukturierung ihre Existenzgrundlage genommen. Privatisierung von Gemeindeland, Migration in

die USA und Zerstörung der sozialen Strukturen sind die Konsequenzen.

Die Autonomie als Gegenprojekt

Als Folge der Verhandlungen zwischen der EZLN und der damaligen PRI Regierung wurden 1996 die Abkommen von San Andrés unterschrieben. Sie sollten die Grundlage für einen neuen Gesetzesentwurf bilden, in welchem die kollektiven Rechte der indigenen Völker verankert werden sollten.

Die Abkommen verstaubten fünf Jahre lang in den Schubladen der Regierungsbeamten. Erst im Jahr 2001 beschloss das Bundesparlament ein verwässertes Gesetz zu den indigenen Rechten. Dieses Ley indigena light wurde von indigenen Organisationen und der EZLN abgelehnt, weil u.a. zentrale Punkte über die kollektiven Landrechte herausgestrichen worden waren.

In diesen stummen Jahren sistierte die EZLN aus Protest gegen die Verzögerungstaktik der PRI-Regierung weitere Verhandlungen. Wenig sichtbar auf der politischen Weltbühne, verlagerte sie ihren Schwerpunkt auf die Gründung und Organisierung von autonomen Gemeindestrukturen in Chiapas, deren Anerkennung Teil der Vereinbarungen von San Andres war.

Die Autonomie indigener Gemeinden nimmt auch ohne verfassungsrechtliche Grundlagen langsam Gestalt an. Es werden Gesundheitsposten und Kliniken gebaut, autonome Schulen gegründet, Kurse in Biolandbau gegeben, Produkte der Landwirtschaft lokal und international gemeinsam vermarktet. Die autonomen Regierungsstrukturen sprechen Recht, vermitteln bei Konflikten und verwalten ganze Regionen. Sie haben dabei mit zwei Haupthindernissen zu kämpfen: Die fehlende Anerkennung von Seiten des Staates und als Folge davon das Fehlen aller Zuschüsse für diese verarmten Regionen.

Aufstandsbekämpfung

Der Preiszerfall der traditionell angebauten Produkte (Kaffee, Mais und Bohnen) und fehlende Absatzmärkte sind die dringendsten Probleme der Menschen in Chiapas und machen sie anfällig für die Bestechungsversuche der Regierung.

Eine Strategie des Krieges niederer Intensität sind die Entwicklungshilfeprojekte der Regierung. Mit blumigen Namen wie PROCAMPO, PROGRESA, PROCEDE und OPORTUNIDADES werben sie für ein besseres Leben, welches aber nur selektiv gewährt wird. Nutzniesser dieser Programme sind Leute, die einer bestimmten Partei angehören oder die bereit sind, Gegenleistungen (z.B. Privatisierung des Gemeindelandes) dafür zu erbringen. Ziel ist, die kollektiven Strukturen der indigenen Gemeinden zu zerstören, um den internationalen Wirtschaftsinteressen einen Weg zu den begehrten Ressourcen der Region zu bahnen.

Mit dem bewaffneten Aufstand der Zapatistas 1994 und der Anwendung der Aufstandsbekämpfungs-Strategie in Chiapas wurde auch das Konzept der mexikanischen Armee geändert und die Schaffung von paramilitärischen Gruppen als Teil der Anti-Guerilla-Strategie gefördert. Paramilitärische Gruppierungen existieren unterdessen in allen Konfliktregionen. Sie werden meist aus denselben Gemeinden rekrutiert, in denen sie nachher auch aktiv sind und sie erhalten von der mexikanischen Armee eine militärische Ausbildung und Waffen. Sie sind die Hauptverantwortlichen für Vertreibungen und Morde in Chiapas. Die paramilitärischen Gruppen können in einem straflosen Raum agieren. Sie werden durch Regierungsvertreter geschützt und arbeiten eng mit der Armee zusammen.

Die EZLN weigert sich bis heute, diese Aufforderung zum offenen Bürgerkrieg anzunehmen und setzt nach wie vor auf einen breiten gesellschaftlichen Dialog, um auf politischem Wege eine indigene Autonomie und einen gerechten und würdigen Frieden zu erreichen.

Widerstand ist machbar

Der Widerstand in Chiapas und in ganz Mexiko ist ein Schreckgespenst für die neoliberalen Planer, nach deren Vorstellung sich die ganze Welt den Gesetzen des «freien» Marktes unterordnen soll, in dem nur das Recht des Stärkeren gilt.

Im Frühling 2001 organisierten die Zapatistas die Marcha por la Dignidad um die Umsetzung der Abkommen von San Andres im Parlament zu unterstützen. Eine Viertelmillion Menschen begrüsste die EZLN-Delegation bei ihrer Ankunft im Herzen des Landes auf dem Hauptplatz von Mexiko Stadt. Als Hauptrednerin der EZLN sprach Comandanta Esther vor dem mexikanischen Kongress. Doch einen Monat später wurde die Gesetzesinitiative über die indigene Rechte von der Legislative so verfälscht, dass von einer Anerkennung der indigenen Völker in der mexikanischen Verfassung keine Rede sein konnte.

International ist die Rebellion in Chiapas eine wichtige Inspirationsquelle für viele soziale Bewegungen in anderen Ländern des Südens, sowie für die Anti-Globalisierungsbewegung, die in der Schweiz insbesondere mit den Mobilisierungen gegen WTO, G8 und WEF bekannt wurde.

National fällt die Bilanz der EZLN trotz vieler grosser Mobilisierungen und grosser Sympathie der mexikanischen Bevölkerung gemischt aus. Die Zapatistas haben eine stabile Basis in den Dörfern und die zapatistischen Autonomieregierungen werden auch von Nicht-Zapatistas als moralische Autorität anerkannt. Im neoliberalen Umfeld ist diese Autonomie jedoch stark gefährdet und kann auf Dauer nur bestehen, wenn sie in der mexikanischen Gesellschaft breiten Rückhalt findet.

Seit dem Sommer 2005 bereiten die Zapatistas deshalb eine neue Phase ihres politischen Wirkens vor: Mit der Sechsten Erklärung aus dem lakandonischen Urwald beschlossen sie, aus ihrer angestammten Region herauszutretenund in einer auf mehrere Jahre angelegten Kampagne BündnispartnerInnen in ganz Mexiko zu finden. Mit diesen zusammen wollen sie ein anderes Mexiko, unabhängig vom korrumpierten Parteisystem aufbauen.

Wir unterstützen diese zivile politische Initiative der EZLN. La Otra Campaña findet in einem schwierigen politischen Klima statt, im Sommer 2006 stehen Wahlen an in Mexiko.