Interview mit Sylvia Marcos

„Die zapatistische autonome Regierung räumt den Frauen mehr Machträume ein“

1.2.2015, www.pikaramagazine.com (von Sylvia Marcos, aus dem Spanischen von der Direkten Solidarität mit Chiapas, Zürich)

Quelle: opendemocracy.net

Sylvia Marcos ist Teil des Netzwerks dekolonialer Feminismen (Red de Feminismos Descoloniales) in welchem sich Aktivistinnen und Akademikerinnen aus verschiedenen Hintergründen beteiligen. Zurzeit sind sie in Mexiko unterwegs, um das Buch „Más allá del feminismo. Caminos por andar“ (Jenseits des Feminismus. Wege, die noch zu begehen sind) vorzustellen. In dieser Sammlung von Essays leisten sie mit ihrer Stimme der feministischen intellektuellen Tradition von“unten und links“ einen Beitrag. Sie erachten es als notwendig, den Feminismus zu dekolonialisieren und ihn in einen Dialog mit anderen Frauenstimmen zu setzen, wie etwa denjenigen der zapatistischen Frauen. Da das 20-jährige Jubiläum des Zapatismus gefeiert wird und Sylvia sich gerade in Oaxaca aufhielt, sprachen wir mit ihr über Frauen, Zapatismus und Autonomie.

1993 hielt sich Sylvia Marcos in den Gängen der UNAM (Nationale Autonome Universität Mexikos) auf, als ihr ein junger Mann ein Faltblatt in die Hände drückte und verschwand. Es war das erste offizielle Bulletin der Zapatisten. Als sie darin blätterte, sah sie das revolutionäre zapatistische Frauengesetz, ein Vorschlag, auf den sich alle Gemeinden im Widerstand einigten, als der Zapatismus noch im Geheimen operierte. Dieses Gesetz erschien zusammen mit dem Agrargesetz, in dem es ums Recht auf Land geht.

Es war nicht wie andere Guerrilla-Bewegungen, in welchen sie während Jahren teilgenommen hatte und in denen der „Macho-Leninismus enorm war“, dachte damals diese mexikanische Feministin. Im Zapatismus gab es eine explizite Proklamation der Frauenrechte. Es war ein historisches Novum. „Als ich all diese starken Frauen sah, die in verantwortungsvollen Posten waren, hab ich mich in den Zapatismus verliebt.“

Heute ist Sylvia, Anthropologin und Bildungspsychologin, nach wie vor emotional berührt, wenn sie vom Zapatismus spricht. Sie kennt ihn von innen, hat am 20. Jahrestag im Caracol Oventic am 31. Dezember 2014 mitgefeiert. Sie hat auch verschiedene Texte über zapatistische Frauen und indigenen Feminismus verfasst. Die indigenen Frauen haben ihr viel beigebracht, und ihr Verständnis um die Theorie des Wissens und von Feminismus von Grund auf verändert.

Die Proklamation der Frauenrechte innerhalb des Zapatismus ist auch heute noch einer seiner am wenigsten bekannten Verdienste; warum?

Ich glaube nicht, dass dies vom Zapatismus nicht sichtbar gemacht wird, schliesslich geht es in einem von vier Textbüchern, die für die Escuelita geschrieben wurden, um die Teilnahme der Frauen an der autonomen Regierung (Die kleine Schule 2013-14; an welcher Zivilpersonen aus der ganzen Welt eine Woche lang bei einer zapatistischen Familie lebten und dabei die Textbücher über die Erfahrungen des zapatistischen Widerstands lasen und darüber debattierten).

Es sind bestimmte Intellektuelle, die sich quasi als Sprachrohre des Zapatismus ausgeben, die sich einen Deut um das revolutionäre Frauengesetz scheren, da sie über die patriarchale Perspektive funktionieren. Wer von den rund 300 Intellektuellen, die an der Escuelita teilgenommen haben, hat über das Offensichtliche geschrieben? Dass die Hälfte Männer und die andere Hälfte Frauen waren: Die Begleiter (votanes) waren Männer und Frauen, die „Lehrpersonen“ waren Männer und Frauen, vier Kommandanten eröffneten den Anlass und vier Kommandantinnen schlossen ihn, nicht eine(r) mehr oder weniger. Niemand hat das bemerkt. Ich war die einzige, die auf die gleichwertige Beteiligung der ZapatistInnen hinwies; sie nahmen gleichteilig daran teil, aber nicht im numerischen Sinn.

Du sagst, die zapatistischen Frauen hätten erreicht, was wir, die Feministinnen von aussen, nicht erreicht haben; kannst du uns von einigen Fortschritten erzählen, die du in den 20 Jahren des zapatistischen Widerstands beobachtet hast?

Wenn du die Rolle der Frauen ausserhalb auf der politischen und medizinischen Ebene beobachtest und damit vergleichst, was die zapatistischen Frauen innerhalb ihrer Autonomie machen, sind letztere weiter gekommen. Aber man muss es im Zusammenhang mit der Art von autonomer Regierung sehen, die ein neues, wegbereitendes Projekt ist, welches den Frauen viele Machträume gibt. In den indigenen Kulturen gibt es interne Machträume, die ausschliesslich den Frauen vorbehalten sind, und der Zapatismus hat, als Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit formuliert wurden, dies wieder aufgenommen und sie Teil des eigenen politischen Projektes werden lassen.

Die indigenen Frauen verfügten schon immer über Kenntnisse (Heilerinnen, Hebammen), die in der urbanen Welt, von der Mittelschicht oder den Mestizen nie richtig anerkannt wurden. Der Zapatismus hat jedoch damit begonnen, die traditionelle Medizin zu studieren, nicht um der Tradition willen. Vielmehr weil dieser Bereich Teil ihrer (politischen) Alternative ist, weil es eine Medizin ist, die liebevoller mit dem Körper umgeht – sie ist natürlich, ganzheitlich und kann auch, wenn notwendig, mit der Schulmedizin verbunden werden.

Der Zapatismus privilegiert die Frauen, das medizinische Wissen anzuwenden. Die einzigen, die die Fragen der Gesundheit der Frauen angehen, sind Frauen. Ausserhalb des Zapatismus verfügen die Frauen nicht über diese medizinische Autorität, die Männer haben mehr Kundschaft und werden besser bezahlt. Die Frau ist da immer im Wettstreit mit einem Mann, der als kundiger betrachtet wird.

Was die politische Teilnahme angeht, gibt es in den Räten der Guten Regierung Frauen. Sie sind auf der höchsten Autoritätsstufe der autonomen Regierungsstruktur, nicht wie in den Gleichstellungskommissionen der mexikanischen Regierung. Sie sind Kommandantinnen, aber auch Bildungspromotorinnen, Agronomie-Beraterinnen, sie gehen Probleme rund um die Landfrage an… Und viele machen das, ohne weder schreiben noch lesen zu können, wie etwa Commandanta Ramona, die in Organisationsbelangen ein grosses und wichtiges Genie war. Um in der Autonomie zu regieren, ist es nicht zwingend, schreiben oder lesen zu können. Alle sind mal dran mit „regieren“. Sie haben keine Geschlechterquoten sondern fassen Beschlüsse in den gemeinschaftlichen Sitzungen – einmal sind es Männer, dann wieder Frauen.

Diese Form autonomer Regierung bevorzugt also die Gleichheit zwischen Frauen und Männern. Erzähl uns doch etwas mehr darüber, wie die politische Teilnahme aussieht und wie Entscheidungen getroffen werden.

Die Posten, die sie haben, sind vorübergehend, widerrufbar und gewählt durch die gemeinschaftliche Versammlung. Einer der Grundpfeiler des Zapatismus besteht darin, dass alle lernen müssen, wie man regiert, auch wenn sie nicht sehr darauf vorbereitet sind, aber wenn sie ehrlich und verantwortungsvoll sind, werden sie gewählt.

Die Posten der Räte der Guten Regierung werden fortwährend ausgewechselt, nicht wie ausserhalb, wo ein Präsident mit seiner ganzen Männertruppe an die Macht kommt und alle rausschmeisst, die da sind. Die Zapatisten setzen Personen, die sich nicht auskennen, zusammen mit solchen, die wissen, was gemacht werden muss, und so wird immer dazugelernt. Sie haben dies so berechnet, dass für jede Aufgabe Zeit da ist, um sich einzuarbeiten und zu lernen, damit sie nicht ahnungslos etwas erledigen müssen, was sie noch nie gemacht haben. Sie lernen aus der Praxis heraus zu regieren. Niemand ist unersetzlich, alle sind ersetzbar. Und wenn jemand seine Aufgabe nicht erfüllt, wird diese Person früher abgelöst.

Sie haben so vieles erfunden… es ist erstaunlich. Wie etwa das der „Hörenden“ (escuchas). Die meisten haben, als Bewohnende von marginalisierten indigenen Regionen, das Spanische halb genuschelt, deshalb haben sie die Caracoles gemäss ihrer Vielsprachigkeit organisiert (Tsotsil, Tseltal, Tojolabal, Chol und Mam): In einer gemeinschaftlichen Versammlung wählen sie junge Burschen und Mädchen (escuchas) aus, die mehrere Sprachen lernen und die alles, was an der Sitzung einer Gemeinde besprochen wird, einer anderen Gemeinde berichten. Als der Nationale Indigene Kongress 2014 (CNI) durchgeführt wurde, waren 1400 escuchas tätig.

In der Kleinen Schule (Escuelita) haben sie uns beigebracht, wie sie leben, was die Autonomie ist, und es ist dir bewusst geworden, dass sie dabei einen ganzen theoretischen und philosophischen Prozess durchlaufen haben, um zu erklären, was sie machen. Es sind nicht die Art von Leute, denen die Ideen von oben herab gegeben werden. Sie theoretisieren von ihrem Leben aus, wie sie mit dem umgehen, das auf sie zukommt, und wie sie es schaffen, zu überleben… Sie sind daran, die Welt zu erfinden, eine Art des Regierens, die Demokratie genannt werden kann, obwohl ich glaube, dass das, was gemeinhin als Demokratie bezeichnet wird, viel zu kurz kommt im Vergleich zu dem, was sie machen.

Du berichtest davon, dass auch die Gewalt gegen Frauen in den zapatistischen Gemeinden zurückgegangen ist, etwas Ungewöhnliches in einem Land, wo der Feminizid an der Tagesordnung ist. Wie ist es dazu gekommen?

Dem Alkohol den Garaus zu machen wurde Teil der zapatistischen Autonomie, und das hat die Gewalt gegen Frauen extrem verringert. Ich glaube, das war eine der schwierigsten Vorschläge, denn die Bevölkerung war es gewohnt, den Markttag betrunken zu beenden. Die, die Schnaps und dann Bier verkauften, machten in den Gemeinden ihr grosses Geschäft und haben die Leute von ihnen abhängig gemacht; der Mann hat sich betrunken und kam nach Hause, um die Frau zu schlagen. Das musste ein für allemal beendet werden.

Das revolutionäre Frauengesetz war dabei zentral, da es verbietet, die Frauen zu misshandeln. In ihren Versammlungen legen die Frauen dar, wenn ihr Mann sie schlägt, und das Gesetz wird angewendet. Nichts davon, dass sie der Polizei eine Anzeige erstatten und sie dann umgebracht werden, wie es etwa in Spanien geschieht. In Mexiko passiert es auch, dass, wenn eine Frau Anzeige erstattet, sie sich sogleich in Todesgefahr begibt, oft verfolgen sie sie auch oder bringen sie um – viele lassen darum die Anzeige sein. In zapatistischem Gebiet gehen die Frauen an die Versammlung und erläutern, dass ihr Mann sie misshandelt hat, so wie auch irgendein anderer Konflikt vorgebracht wird. Die anwesende Versammlung schlägt dann Lösungen vor. Das ist etwas, was der indigenen Kultur eigen ist. Sie geben dem Mann dann drei Mahnungen, bei der dritten holen sie ihn und schliessen ihn aus, da er gegen das revolutionäre Frauengesetz verstossen hat. Ich möchte nicht sagen, dass dies in allen Fällen gleich ist, jede Versammlung hat ihre eigene Dynamik. Ich möchte auch nicht sagen, dass dies ein einfacher Weg ist. Es ist etwas, das Tag für Tag umgesetzt werden muss. Und nach wie vor wird die Sache intern permanent verhandelt. Ich habe etwa von Frauen gehört, dass sie die Männer daran erinnern müssen, „das Gesetz zu lesen“, wenn sie sich etwa nicht daran hielten.

Die Gewalt gegen Frauen zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus, ist aber nicht abgetrennt von der allgemeinen Gewalt. Wenn es keine Morde in zapatistischem Gebiet gibt, ist die Gewalt gegen Frauen auch geringer. Ich bewundere es, wie sie es schaffen, sich nicht vom Drogenschmuggel durchdringen zu lassen.

Das organisierte Verbrechen ist ein Geschwür in Mexiko. Viele Junge gehen zu kriminellen Banden, weil es eine der wenigen Möglichkeiten überhaupt darstellt. Welche Alternativen hat die zapatistische Jugend ?

Sie haben die Wahl viel zu arbeiten… und diese Würde. Die Jungen, die in einer Bande sind, kommen aus armen, sehr diskriminierten Siedlungen, sie haben kein Selbstwertgefühl, sie werden für irgendwelche Sachen missbraucht. Hingegen wissen die zapatistischen Jugendlichen schon von klein auf, dass sie selbst dabei sind, diese Anstrengungen zu unternehmen, und dass dies eine Alternative ist. Sie merken, dass sie dazugehören und gewürdigt werden. Aber es ist nicht einfach. Wenn sie da nicht den Anschluss kriegen, gehen sie und entfernen sich vom Zapatismus.

Der Zapatismus ist daran, ein Experiment der Veränderung auf allen Ebenen durchzuspielen. Sie haben ihr Land zurückgewonnen, haben ihre eigene autonome Regierung. Glaubst du, diese Form des autonomen Regierens ist für die mexikanischen Mehrheiten möglich?

Ich spreche von der Politik im Kleinen. Ich denke, dass die Grösse einer Alternative wie dieser an eine Grenze kommt. Ich sehe nicht, wie man es machen könnte, 120 Millionen Menschen zu regieren, wenn man sie nicht in viele lokale Autonomien unterteilt. Der Zapatismus wird mehr und mehr angegriffen. Insgesamt sind es fünf zivile zapatistische Einheiten und man schätzt, dass in diesem Gebiet zwischen 400’000 und 500’000 ZapatistInnen leben. Man wird schauen müssen, wie sie in ihrer Autonomie weitergehen und welche Veränderungen nötig sein werden, um als grössere Alternative zu funktionieren oder wie man sich zwischen verschiedenen kleineren und mittleren Alternativen verständigt und austauscht. Wir können es nicht wissen, bis man es nicht ausprobiert, bis es in die Praxis umgesetzt wird. Man kann Alternativen nicht auf einer abstrakten Ebene ausarbeiten.

Abgesehen vom Massstab war die indigene Kosmovision zentral, die Gewohnheit an ein Zusammenleben in der Gemeinschaft.

Ja, das was der Zapatismus – meiner Meinung nach mit grosser Mühelosigkeit – einführt, stammt daher, dass in den umliegenden Gemeinden noch immer die Gemeinschaft das Sagen hat. Schau nach, was sie Sitten und Bräuche (usos y costumbres) nennen, und du wirst die Ähnlichkeit zur zapatistischen Autonomie entdecken. Wenn sie sich die Kultur und die Kosmovision teilen, in welcher alles im Kollektiv gemacht wird, schlägst du logischerweise einen etwas anderen Stil der Gemeinschaft vor. Ich sage nicht, das Gemeinschaftswesen sei per se positiv, auch die Mafia funktioniert auf diese Weise. Die Art und Weise, wie etwa die PRI regiert, rührt daher, dass sie alle eine Gruppe bilden, und wenn der Präsident ein Problem hat, opfern sie jeweils einen Sündenbock aus ihrer Gruppe.

Um noch einmal auf die Errungenschaften für die zapatistischen Frauen zurückzukommen; viele Feministinnen haben lange gebraucht, um diese zu sehen. Wie soll man die Rechte der zapatistischen Frauen von den Feminismen ausserhalb interpretieren, ohne einer kolonialen Sichtweise zu verfallen?

Die erste Schwierigkeit ist, dass die Feministinnen von aussen sagen und denken, dass diese indigenen Frauen nicht ihre eigenen Rechte sehen, da sie ihr Volk verteidigen, dass sie sie also als zweitrangig betrachten. Und das ist eine typisch kolonisatorische Haltung, denn wir hierarchisieren die Rechte aus unserem Selbstverständnis heraus, sowohl unsere Rechte als Frauen wie auch die des Kollektivs. Wir denken nicht, dass sie zusammen betrachtet werden können. Wir können nicht verstehen, dass sie es sind, die diese gleichzeitig in die Praxis umsetzen. Die Zapatistinnen nehmen den Finger von ihren Rechten als Frauen nicht weg, und arbeiten trotzdem immer mit den Männern daran, die Autonomie und das Territorium zu verteidigen. Sie sind an beiden Fronten gleichzeitig, und das muss man lernen, zu sehen. Darum ist es wichtig, grundlegende Kenntnisse ihrer philosophischen Prinzipien wie auch ihrer indigenen Kosmovision zu haben, die etwa die fliessende Dualität der Gegensätze und des sich Ergänzenden beinhaltet.

Eine anderer Punkt noch: Für sie bedeutet der Kampf nicht der Kampf der Frauen „gegen“ die Männer, sondern „mit“ den Männern, und das fällt den Feministinnen schwer, zu verstehen. Und nicht nur den hegemonischen (die, die mit den Eliten und der Regierung zusammenspannen). Es gibt andere Feminismen, die das ebenso wenig begreifen – sie möchten ihnen beibringen und helfen, ihre Rechte zu verteidigen. Wie fällt es diesen nur ein, sich in eine Welt, die sich auf der symbolischen Ebene völlig unterscheidet, einzumischen und ihnen Sachen zeigen zu wollen, die sich auf den Körper und die Sexualität beziehen? Unter ihnen (den Zapatistinnen, Anm. d. Übersetzung) ist der Körper voller Symbole, er steht in Beziehung zum Kosmos, zur Erde, zu den Vorfahren… es ist etwas sehr Komplexes, und die Feministinnen gehen etwa so weit, ihnen zu sagen, dass sie nicht schwanger werden sollten – wie ist das möglich?

Die Leute sterben an vielen Krankheiten, die heilbar wären; warum ist nur Geld da, damit sie sich nicht fortpflanzen? Das ist eine Verzerrung des Konzepts der sexuellen und reproduktiven Rechte. Ich war dabei, als sich in New York der Begriff „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ prägte. Er beinhaltete den ganzen Lebenszyklus einer Frau und definierte das sexuelle Vergnügen zum Frauenrecht. Darum haben dann die NGO-Programme, die von den USA und vom geopolitischen Norden finanziert wurden, diesen Bereich gestrichen.

Auf deinem Weg, die sexuellen und reproduktiven Rechte zu verteidigen, erlebtest du da eine dekoloniale Umkehr? Was hat es dir gezeigt?

Klar, darum habe ich alle diese Organisationen verlassen. Ich war in Kairo, in Peking, alles durch die UNO finanziert. Sie haben mir sogar vorgeschlagen, Direktorin des Programms für Lateinamerika der Rockefeller-Stiftung zu werden. Aber mir wurde bewusst, dass da Geld zur Verfügung stand, das nicht allein  guten Absichten dienen  konnte. Ich bewegte mich ganz oben, und die Leute da oben sind zynisch. Die höchste Autorität der Rockefeller-Stiftung, die für Lateinamerika zuständig war, hatte keine Skrupel zu sagen„was wir wollen ist, dass diese Leute sich nicht weiter fortpflanzen“. Das war ein Schock; sie haben mir mehrere Jahre lang die Pille versüsst, und ich glaubte wirklich, dass die Frauen mehr Macht über ihren Körper haben könnten, wenn sie das machen würden, was wir von Seiten der NGO einführten. Aber ich wurde mir dessen bewusst und brauchte einige Monate, um mich von einigen NGOs zurückzuziehen, die ich selbst hier in Mexiko gegründet habe. Ich konnte so nicht weitermachen, wenn sie mir Anweisungen aus Washington gaben. Das war hart. Ich hatte gute Beziehungen, reiste in der ganzen Welt umher und genoss einen sehr speziellen Status – und dann stellte mich auf die andere Seite und kritisierte dies alles. Ich begann, mich wieder in meinem akademischen Umfeld, das ich damals verlassen hatte, um mich bei der UNO zu engagieren, neu zu erfinden. Bereuen tue ich nichts.

Über die Jahre versuchte ich, die verschiedenen Formen der indigenen Frauen, ihre Rechte als Frauen einzufordern, respektieren zu lernen. Sie machen nicht einfach nach, was wir wünschen und fordern. Das ist ein grosser Trugschluss von vielen Feministinnen, auch wenn sie einer kritischen Linken angehören. Die Forderungen der indigenen Frauen müssen in all ihren Eigenheiten anerkannt und beurteilt werden.

Weiterführender Artikel auf Englisch von Sylvia Marcos